Diesen Beitrag teilen
3. August 2020

#StopptKinderarmut – befähigt die Kommunen!

2,8 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Diese Zahl haben meine Kolleginnen in der vergangenen Woche veröffentlicht:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/kinderarmut-eine-unbearbeitete-grossbaustelle

Es frustriert mich zu sehen, wie Kinderarmutsstudien in der medialen Aufmerksamkeit stets durch die Decke schießen, wie die Benachteiligung von armen Kindern beim Homeschooling seit Wochen Thema ist und sich trotzdem der Alltag von betroffenen Kindern nicht verändert. Wenigstens werden die Corona-Hilfen von 300 Euro pro Kind mal nicht auf die Hartz IV Sätze angerechnet.

Schaut man in dem Zusammenhang auf die laufenden Verhandlungen zum Nothilfepaket und dem nächsten EU-Haushalt nach Brüssel, wird deutlich, was mich so frustriert:

Der aktuell vorliegende Entwurf verpflichtet die europäischen Mitgliedsstaaten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mindestens 5% des europäischen Sozialfonds für den Kampf gegen Kinderarmut zu verwenden, obwohl Kommission und Parlament sehr darauf gedrängt haben. Ob nun Kinderarmut generell oder Corona-Folgen:

 

Menschen in Armut werden immer noch stigmatisiert und ihre Bedarfe häufig übersehen

Vielleicht ist der Gedanke, dass die von Armut Betroffenen einfach nicht hinreichend motiviert sind, um sich selbst aus der Misere zu ziehen, weiterverbreitet als ich dachte. Der Artikel von Ulf Poschardt, Chef-Redakteur der Welt-Gruppe, fällt in der Berichterstattung zur Kinderarmut auf. Er fordert am 24.Juli „Aufstieg durch Bildung und Fleiß“ und statt „mehr Geld“ „einen „Mentalitätswandel, der auch bei sozial Schwachen jene Illusion beerdigen würde, dass es jemand anderes als sie selbst sein muss, der für ihre Kinder bessere Lebensumstände erkämpft“.

Die Forschungen aus „Kein Kind zurücklassen!“ können der Argumentation nicht folgen. Wir wissen inzwischen, dass Armut sich vererbt und es schwierig ist, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/kein-kind-zuruecklassen-kommunen-schaffen-chancen/

Kinder spielen die gleiche wichtige Rolle im Leben armer Eltern wie bei allen anderen Eltern auch. Eltern sparen eher bei sich als bei den Kindern. Eine französische Armutsforscherin hat vor Jahren einen klugen Satz formuliert: „Arme Menschen sind wie alle Menschen, nur arm“. Auf Grund der Armut sind arme Menschen jedoch physisch und psychisch kränker und weniger gebildet als der Durchschnitt der Gesellschaft und benötigen häufiger Unterstützung in der Erziehung.

 

Armut zehrt

Wer schon mal mit Armut in Berührung gekommen ist, weiß, wie anstrengend es ist, arm zu sein. Probleme, die Mittelschichtsfamilien nicht wahrnehmen, weil sie mit Geld gelöst werden können, müssen in armen Familien kreativ und kräftezehrend bewältigt werden. Seien es Fahrtkosten, Kosten, die die Schule verursacht, außerplanmäßige Reparaturen usw. Kreativität kostet Energie. Stellt sich die Frage, wie viel davon in einer Familie zur Verfügung steht und wann die Kraft einfach zu Ende ist, auch für die Kinder.

 

Deutschland hat ein ausgeprägtes Sozialsystem, und es wird viel Geld aufgewendet.

 Die Leistungen abzurufen ist dennoch aufwendig und Lösungen im Sinne von Kindern sehen anders aus, ein Beispiel:

Die Klassenfahrt kann, wie viele andere Dinge auch, aus dem Bildungs- und Teilhabepaket bezahlt werden. Dafür, und für viele weitere Anliegen, die die Bildungsteilhabe von Kindern absichern soll, müssen seitenlange Anträge in schönstem Bürokratendeutsch ausgefüllt werden.

Was, wenn Eltern mit dem Bürokratendeutsch nicht klarkommen? Das soll auch in Mittelschichtsfamilien schon vorgekommen sein. Bleibt das Kind dann zu Hause oder bekommt in der Kita kein Mittagessen?

 

Kommunen können unterstützen

Manche Kommunen helfen ihren Bürger*innen, indem sie Antragsverfahren vereinheitlichen und hinter den Kulissen Abrechnungen zusammenführen. Die Stadt Hamm ist zum Beispiel so eine Kommune, die nicht nur bei Bildung und Teilhabe, sondern auch in vielen anderen Bereichen „vom Kind her“ denkt.

Der Weg zu koordiniertem Handeln im Sinne der Kinder und Jugendlichen verlangt nach Menschen, die über den Tellerrand der eigenen Zuständigkeit schauen und kommunale Unterstützung entsprechend managen. Verpflichtet sind die Kommunen dazu nicht. Es ist also Glückssache, ob ein armes Kind in eine Kommune geboren wird, die „vom Kind her“ ihre Unterstützungsleistung koordiniert. Die Herausforderung ist, die verschiedenen Stationen des Aufwachsens und die unterschiedlichen Bedarfe, die in Sozialamt, Jugendhilfe und Gesundheitsamt verortet sind, in die Koordination einzubeziehen.

 

Kinder brauchen von Geburt an Zuwendung und kontinuierliche Begleitung in allen Lebensphasen, um als junge Erwachsene selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln zu können.

Bindung, kontinuierliche Beziehungen, Anregungen und ehrliches Interesse bilden das Fundament, um den Weg ins Leben zu meistern. Je größer die Risse im Fundament, umso schwieriger wird die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.

Wenn Eltern die Kraft oder das Wissen fehlen, um diese Begleitung zu leisten, sollten das nicht die Kinder ausbaden. Daher setzt sich „Kein Kind zurücklassen!“ für den Aufbau kommunaler Präventionsketten ein. Es nützt nichts, mal hier und dort etwas zu tun, die Unterstützung muss kontinuierlich sein, Kinder und Eltern müssen Vertrauen zu den Menschen im Unterstützungssystem aufbauen können, damit die Unterstützung auch greift.

In den Kommunen bestehen bereits viele Möglichkeiten, Kinder und Familien über Hebammen, Kinderärzte, die Jugendhilfe und auch Schulen zu begleiten. Häufig fehlt es jedoch an Personal, professionsübergreifendem Wissen, Strategie und Geld, um hilfreich zu handeln. Hier könnte viel getan werden, wenn die unterschiedlichen staatlichen Ebenen (EU, Bund und Länder) beispielsweise die unzähligen Projektfinanzierungen in Regelfinanzierungen umwandelten. Das Stückwerk verhindert die kontinuierliche Begleitung von benachteiligten Kindern und frisst in den Kommunen die ohnehin knappen Personalressourcen. Neben einem auskömmlichen Teilhabegeld wären weitere wirksame Schritte in allen (benachteiligten) Stadtteilen verbindlich und unbefristet zum Beispiel

  • Lotsendienste zu Unterstützungsangeboten an Geburtskliniken und gynäkologischen sowie Kinder- und Jugendarztpraxen anzudocken,
  • Familienzentren, Sprachförderung und interkulturelle Beratung an Kitas und (Grund-)Schulen einzurichten,
  • Schulsozialarbeit auszubauen und
  • fußläufig Familienbüros zur Verfügung zu stellen.

Kommunen mit mehr Personal, Hilfestellung und Freiräumen können dazu beitragen, den Teufelskreis der Kinderarmut zu durchbrechen. Darüber hinaus ist Kinder zu unterstützen auch eine Investition in die Zukunft. Gerade im demografischen Wandel sind wir auf jedes Kind angewiesen, das später ins umlagefinanzierte soziale Sicherungssystem einzahlt, wirtschaftlichen Innovationen den Weg bereitet und nicht zuletzt uns pflegt.

Bildnachweis: © Fancy / Image Source

Diesen Beitrag teilen
Kommentar verfassen