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21. August 2020

Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung: Welche Rolle spielen eigentlich die Bundesländer?

„Das regt mich richtig auf“, wetterte Anfang Juli Johannes-Wilhelm Rörig, der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, über die seines Erachtens mangelnde Verantwortung, die die Bundesländer für den Schutz von Kindern und Jugendlichen übernehmen. Scharf kritisierte er das Verhalten der meisten Landesregierungen nach Missbrauchsskandalen wie in Bergisch Gladbach, Lügde, Münster und Staufen. Unter anderem fordert Rörig eine „ordentliche Defizit- und Bestandsanalyse“ seitens der Bundesländer – „und zwar bezogen auf alle Ämter, die dem Kindeswohl dienen“. „Bisher erlebe ich da eine ärgerliche und fatale Sturheit der Landesregierungen“, monierte er weiter.

 

Kinder- und Jugendhilfe: Vorrangig eine kommunale Aufgabe

Die Zurückhaltung der Länder rührt möglicherweise daher, dass sie sich gar nicht als primär zuständig begreifen. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen – das ist in Deutschland Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe. Und die Verantwortung für die Erfüllung dieser Aufgabe liegt schwerpunktmäßig bei den Kommunen.

Die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gehen dabei weit über den Kinderschutz hinaus. So hat sie beispielsweise auch den Auftrag sogenannte Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) bereitzustellen. Dies sind Leistungen, die gewährt werden, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung gelten dabei als zwei Seiten einer Medaille, die es sensibel auszutarieren gilt.

 

Offene Frage: Die Rolle der Bundesländer

Den Bundesländern obliegt es, die Kommunen bei der Wahrnehmung ihrer o. g. Aufgaben zu unterstützen und „die Tätigkeit der Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe und die Weiterentwicklung der Jugendhilfe anzuregen und zu fördern“ sowie „auf einen gleichmäßigen Ausbau der Einrichtungen und Angebote hinzuwirken“ (§ 82 SGB VIII). Zugleich sind die Länder damit beauftragt, für gleiche Lebensbedingungen und Zugangsmöglichkeiten zu kinder- und jugendpolitischen Angeboten und Hilfen zu sorgen. Mit der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) und der zugehörigen Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden (AGJF) gibt es zudem Fachgremien, deren erklärtes Ziel es ist, „länderübergreifende Grundsatzfragen zur Sicherstellung einer angemessenen und einheitlichen Umsetzung des Kinder- und Jugendhilferechts ab[zustimmen]“.

Doch wie nehmen die Bundesländer ihre Verantwortung wahr? Und wie gestalten sie die Rahmenbedingungen für die Erfüllung ihrer Aufgaben auf kommunaler Ebene (mit)? Diese Fragen standen bisher relativ selten im Fokus – sodass wenig transparent ist, wie die Länder vorgehen, ob sie unterschiedlich vorgehen und/oder ob sie jeweils andere politische Schwerpunkte setzen. Dieses weitgehend fehlende Wissen über die Rahmensetzungen der Länder steht im Widerspruch zur hohen Relevanz der Jugendhilfe.

 

Im Fokus: Rechtliche Rahmensetzungen der Länder bei Hilfen zur Erziehung

Diese Diskrepanz war auch Anlass eines Projektvorhabens der Bertelsmann Stiftung, das sich mit der Rolle der Bundesländer bei den Hilfen zur Erziehung auseinandersetzt. In diesem Projekt hat die Stiftung eine Rechtsexpertise ausgeschrieben und an den Forschungs- und Innovationsverbund FIVE an der Evangelischen Hochschule Freiburg e. V. vergeben, finanziert aus Mitteln der Bertelsmann Stiftung und des Europäischen Sozialfonds, erstellt von Dr. Thomas Meysen, Prof. em. Dr. Johannes Münder und Lydia Schönecker. Die Expertise widmet sich der Frage nach den rechtlichen Rahmensetzungen der Bundesländer bei Hilfen zur Erziehung.

 

Rahmensetzungen: Vor allem bei den stationären Hilfen & mit Fokus auf Finanzfragen

Die Analyse zeigt, dass sich rechtliche Rahmensetzungen vor allem bei den stationären Hilfen zur Erziehung finden, etwa bei der Festsetzung der Pflegegeldpauschalen nach § 39 Abs. 5 SGB VIII sowie bei den Rahmenverträgen nach § 78 f. SGB VIII in Verschränkung mit der Betriebserlaubnis nach §§ 45 ff. SGB VIII. Deutlich hinter den stationären Angeboten zurück bleibt die Rahmensetzung bei den ambulanten Hilfen zur Erziehung, der Vollzeitpflege und den Hilfen für junge Volljährige.

Rahmenverträge werden zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und den Wohlfahrtverbänden auf Landesebene geschlossen, die Länder sind an den Beratungen beteiligt und nehmen als Zuständige für die Aufsicht über Einrichtungen regelmäßig erheblichen Einfluss. Die Rahmenverträge konzentrieren sich meist auf die Entgelte, während Leistungs- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen weniger im Zentrum stehen. Die Autoren schreiben hierzu: „Auffällig ist, dass die Gestaltungsoptionen insoweit weniger zur fachlich-inhaltlichen Strukturierung der (teil)stationären Angebote, sondern mehr zur Erleichterung der Entscheidungsfindungsprozesse, Verfahren und Verhandlungen genutzt werden. Die Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Rechtswirklichkeit der Leistungsgewährungspraxis bleiben somit weitgehend ungenutzt“ (S. 144). Die Länder investieren also viel Energie, um den Finanz- und Kostenrahmen abzustecken, kümmern sich aber weniger intensiv darum, die Qualität der Leistungsangebote zu bewerten.

Bei den Pflegegeldpauschalen zeigt sich überraschend eine große Divergenz zwischen den Ländern, obwohl alle angeben, sich hier an den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zu orientieren. Lag der empfohlene Betrag des Deutschen Vereins 2019 z. B. für die jüngsten Kinder bei 560 Euro, schwankten die Pauschalen der Länder zwischen 399 Euro (BE) und 560 Euro (HH, NI, SH) (S. 87).

 

Viele Aktivitäten, wenig Koordination

Insgesamt verdeutlicht die Analyse, dass die Bundesländer die Rahmenbedingungen der Gewährung von Hilfen zur Erziehung durchaus maßgeblich mitgestalten. Sowohl bei der Rahmensetzung als auch bei der Steuerung und Mitgestaltung der Hilfen finden sich zahlreiche Aktivitäten der Länder – ihr Gesamteinfluss ist empirisch jedoch schwer zu fassen. Und die Steuerung wie auch die Rahmensetzungen scheinen zwischen den Ländern relativ wenig koordiniert zu sein – trotz der o.g., von JFMK und AGJF angestrebten Zielsetzung.

 

Weitere Forschung notwendig

Die Gesamtverantwortung der Länder für die Kinder- und Jugendhilfe ist durch die Diskussion um die jüngsten Kinderschutzfälle in den Fokus gerückt. Mit der Rechtsexpertise zur Rahmensetzung der Länder bei den Hilfen zur Erziehung wird ein erstes Schlaglicht auf diesen Teilbereich der Kinder- und Jugendhilfe geworfen. Die Expertise zeigt, welchen Beitrag die Länder zu einer flächendeckend verlässlichen und hochwertigen Arbeit der örtlichen Kinder- und Jugendhilfe leisten (können). Es wird spannend sein zu sehen, wie sich die Dinge hier in den nächsten Monaten entwickeln. Bleibt zu hoffen, dass Johannes-Wilhelm Rörig in seinem nächsten Lagebericht zumindest die „ärgerliche und fatale Sturheit der Landesregierungen“ nicht länger kritisieren muss.

 

Bildnachweis:  © Fancy / Image Source

 

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