Eine Gruppe Menschen schaut in die Kamera: jung und alt, verschiedene Kulturen, Männer und Frauen. Alle lachen.
Diesen Beitrag teilen
11. April 2017

Unsere Demokratie braucht offene Kommunen in einer offenen Gesellschaft!

Erklärung der Bertelsmann Stiftung

Plädoyer für eine Haltung

Deutschland hat in den letzten beiden Jahren – vielleicht noch mehr, als in den Jahrzehnten zuvor –  gezeigt, was in ihm steckt. Weit über eine Million Geflüchtete wurden seit 2015 bis heute in unseren Städten, Landkreisen und Gemeinden aufgenommen, versorgt, betreut. Bund, Länder und Kommunen rückten zusammen und überwanden miteinander bürokratische Hürden, eine Welle der Hilfsbereitschaft belebte eine Willkommenskultur vor Ort, die bislang ohne Beispiel für Deutschland ist. Altpräsident Joachim Gauck forderte angesichts der weltweiten Fluchtbewegung und der damit verbundenen Sorgen, dass „wir bleiben, was wir geworden sind: Ein Land der Zuversicht.“   Die Menschlichkeit, die Offenheit gegenüber Menschen, die zu uns fliehen müssen, sind bewiesen, die Zuversicht ist Fakt.

Fakt ist allerdings auch, dass ein Teil der Bevölkerung das eigene Wohl durch Zuwanderung prinzipiell gefährdet sieht und daher Positionen und Aktionen gegen Geflüchtete und Migranten toleriert, befürwortet oder unterstützt. Diese Aktionen sind schriller, lauter und pressewirksamer als das mehrfach stärkere amtliche und ehrenamtliche Engagement. In einigen Ländern macht der nationale Egoismus Furore und verspricht eingängige und simple Antworten auf komplexe Fragen. Migration und auch die Flucht werden in einem Zug mit Terror und terroristischer Gewalt als Bedrohung für die westliche Wertegemeinschaft dargestellt, obwohl Menschen vor eben diesem Terror zu uns fliehen. Die neuen nationalistisch-egoistisch geprägten Trends zeigen uns jedoch, wie wertvoll, wie wichtig die Rechte und Freiheiten sind, die unseren Staat ausmachen. Demokratie, Asyl und Integration sind nicht selbstverständlich, aber unverzichtbar.

„Wir bleiben, was wir geworden sind: Ein Land der Zuversicht.“  Altpräsident Joachim Gauck

Ab dem Frühjahr 2016 nahm die Zuwanderung nach Deutschland vor allem aufgrund außenpolitischer Interventionen rapide ab. Es entstand eine Interimsphase, die bis heute anhält. In vielen Kommunen wird sie genutzt, um die Aufnahme der Geflüchteten zu verbessern und ihre Integration ins Gemeinwesen zu intensivieren. Es ist der zweite Schritt bei der Aufnahme, der nun Anstrengungen fordert, die nicht von der ersten unmittelbaren Not und dem begeisterten ersten „Welcome“ bestimmt sind. Es geht nicht mehr um passende Winterkleidung und Notunterkunft, sondern um Kindergartenplätze und Schulbildung, um Arbeitserlaubnis, Ausbildung und Erwerbsarbeit sowie um soziale und kulturelle Integration, ohne zu vereinnahmen. Vor allem in den Kommunen nehmen wir Abschied von der Improvisation und vom Krisenmodus, die für das Gelingen des ersten Ankommens und der ersten Aufnahme entscheidend waren.

Die Kommunen und die Gesellschaft in Deutschland können bei der Integration der Flüchtlinge auf einem breiten Erfahrungsschatz aufbauen. Schon 1957 warb die noch junge Bundesrepublik um Arbeitskräfte aus dem Ausland, das vielgepriesene westliche Wirtschaftswunder wurde auch mit ihrem Einsatz erreicht. Max Frisch prägte den Satz: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kommen Menschen.“   Die Integration in Deutschland hatte ihr eigenes Auf und Ab, ihre Misserfolge und ihre Höhepunkte. Diese Erfahrungen gilt es zu nutzen, um Fehler zu vermeiden und positive Entwicklungen zu unterstützen. Vor allem die Kommunen können Integration! Sie gelingt vor Ort – oder gar nicht.

„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kommen Menschen.“ Max Frisch

Nur ein Teil der zu uns Geflüchteten wird langfristig in Deutschland bleiben. Die Entscheidung darüber, ob sie eine Bleibeperspektive haben oder nicht, wird sowohl von uns als Aufnahmegesellschaft als auch von den Geflüchteten und der Situation in ihren Heimatländern bestimmt. Die Integration wird als Wechselwirkung von Eingewanderten und Aufnehmenden dann gelingen, wenn sich alle Beteiligten diesem Prozess offen stellen. Fehlt diese Offenheit, dann können sich Ablehnung, Diskriminierung und mangelnde Wertschätzung leicht ausbreiten – und zwar sowohl bei den Geflüchteten wie bei der Aufnahmegesellschaft.

Aus dem breiten Spektrum der Faktoren, die Kommunen und ihre Integrationskraft bestimmen, sind folgende jetzt für eine gelingende Niederlassung entscheidend:

  • In der Bevölkerung nehmen der Ärger über eine realitätsferne Politik, die Angst vor Fremdheit und das Bedürfnis nach klaren Problemlösungen zu. Es kursieren durch das Internet und die sozialen Medien verbreitete Falschmeldungen, die Vorurteile bedienen und Rassismus auslösen. Die seriöse Presseberichterstattung war und ist eine Korrektur dessen, was ungefiltert und manipulativ ins Netz eingebracht wird.
    Die Haltung und Berichterstattung gegen Manipulation setzt auf Fakten statt Fakes, auf respektvolle Wortwahl statt simple Vereinfachung, auf Recherche statt Behauptung.
  • Insbesondere in wirtschaftlich schwächeren Gebieten gibt es eine zunehmende Angst vor sozialem Abstieg. Das kann auch zur politischen Resignation und der Ablehnung von allem, was als fremd eingeschätzt und deklariert wird, führen.
    Eine dezentrale Raum- und Städteplanung, die das Gemeinwesen mit seiner sozialen Impulskraft berücksichtigt, ist geeignet, Ghettoisierung und Ausgrenzung zu vermeiden. Die Wohnsitzauflage kann nur dann der Segregation entgegenwirken und einen Beitrag zur Integration der Geflüchteten leisten, wenn sie mit Maßnahmen der Infrastrukturförderung ergänzt wird. Dort, wo kein ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht bzw. aktiviert werden kann, sollte die Aufnahme und die Niederlassung von Geflüchteten durch eine Förderung des dezentralen sozialen Wohnungsbaus verknüpft werden.
  • Verstehen heißt nicht, einverstanden sein. Der Kontakt zu denen, die sich als abgehängt empfinden, darf nicht verlorengehen, sonst wird aus einem Gefühl, abgehängt zu sein, zwangsläufig eine Tatsache.
    Mit denen, die sich von der Demokratie abgehängt fühlen, ist der Dialog zu führen, politisch, öffentlich und privat.
  • Bildung muss für alle Menschen nutzbar sein, auch für Geflüchtete, unabhängig von ihrer Bleibeperspektive. Bildungschancen – ob in Kindergarten, Schule, Hochschule oder Volkshochschule – dürfen nicht nach Aufenthaltsstatus verteilt werden.
  • Arbeit macht für den Einzelnen und die Gesellschaft Sinn und bietet eines der wirkungsvollsten Instrumente für Integration. Dagegen ist der Ausschluss von legaler Arbeit Anlass für Neid und Minderwertigkeitsempfinden und erschwert Integration.
    Die Integration der Geflüchteten in Erwerbsarbeit ist für alle von Vorteil und daher so schnell wie möglich umzusetzen.
  • Die wirkungsvollste Ebene für Integration ist die kommunale. In der Stadt, dem Landkreis, der Gemeinde, dem Dorf, in Kirchen und Vereinen wird die Entscheidung für oder gegen das Miteinander unmittelbar getroffen.
    Notwendig ist eine konzertierte Aktion von Bund und Ländern zur Förderung der Integration vor Ort mit dem Ziel der offenen Gesellschaft.  

Für Wirtschaft, Geld und Güter ist die Globalisierung bestimmend, für die Freizügigkeit der Menschen sind nach wie vor Grenzen ausschlaggebend. Dennoch – und auch aus wirtschaftlichen Gründen – ist Deutschland ein Einwanderungsland. In den Städten und Gemeinden zeigt sich dies am deutlichsten. Ein Drittel der Kinder in unseren Schulen und ein Fünftel der Gesamtbevölkerung haben bereits einen Migrationshintergrund, die Tendenz ist steigend . Deutschland ist als Einwanderungsland also keine Zukunftsvision, sondern Gegenwart und Zukunft.

Ein Einwanderungsgesetz, das mit Anreizen und Pflichten den Rahmen klar steckt, ist überfällig. Das Einwanderungsgesetz wird das Grundrecht auf Asyl, Regelungen zum Aufenthaltsrecht und auch ein Integrationsgesetz nicht verzichtbar machen. Es wäre aber eine gute Voraussetzung für die integrationspolitische Arbeit vor Ort. Und es ist die noch ausstehende politische Konsequenz für ein Land, das sich der Zukunft stellt und das deshalb auf Integration und kulturelle Offenheit nicht verzichten kann und will.

Offene Kommunen in einer offenen Gesellschaft bieten den Menschen die größtmögliche individuelle Freiheit bei größtmöglicher Lebenssicherheit. Sie sind daher auch weltoffene Kommunen. Die Offene Gesellschaft ist eine Haltung, die unsere demokratische Kultur im Positiven prägt und die unsere Demokratie gegen Angriffe stark macht – von innen und von außen.

Wir laden Sie ein, diese Haltung zu teilen.

Gütersloh, 29. März 2017

Diesen Beitrag teilen
Kommentar verfassen