Straßenkämpfe Detroit
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26. November 2014

Detroit. Ursachen der Insolvenz II – Teil 5

Das Versagen der Bürgerschaft.

Die Entwicklung der Autoindustrie erklärt einen großen Teil des Niedergangs der Stadt, der letztlich in der Insolvenz mündete. Er erklärt aber nicht Alles. Es mussten noch ein paar weitere Faktoren hinzukommen, um als Stadt so tief zu fallen. Einige liegen in der Gesellschaft als Ganzes, andere in der Lokalpolitik.

Der „racial issue“

Fangen wir mit dem unangenehmsten Teil an. Im Fachjargon „racial issue“ genannt fällt allein die Übersetzung schwer, ebenso wie der Begriff „African American“, daher verwende ich einfach den englischen. Das Verhältnis zwischen „African Americans“ und „non African Americans“ prägt, so musste ich bald erfahren, die gesamte US-Gesellschaft weiterhin. In Detroit treten ob seiner Geschichte alle Probleme potenziert auf. Mit dem Wachstum der Autoindustrie entstanden hunderttausende Jobs, die eine enorme Migration aus den Südstaaten an die Fließbänder Detroits auslösten. Diskriminierung in den Fabriken, auf dem damals noch im wörtlichen Sinne umkämpften Wohnungsmarkt, gegenüber Polizei und Stadtverwaltung, im Alltag generell war die Regel. Diese Spannungen, die aufgestaute Frustration entluden sich mehrfach gewaltsam in Straßenkämpfen mit einer fast ausschließlich „non African American“ Polizei. Erstmals 1943, stärker aber noch 1967: fünf Tage, 43 Tote, 2.000 zerstörte Gebäude. Diese Vorfälle waren ein Schock. Er wirkt noch heute nach. Ausschreitungen wie jene kamen dazumal in vielen US-Städten vor, aber kaum irgendwo so gewalttätig und groß wie in Detroit.

Segregation als Ergebnis

Die 1967er Ausschreitungen werden heute als ein „game changer“ der Stadtentwicklung gesehen. Sie setzten Detroit auf die Überholspur des Niedergangs. Ein Effekt war der sogenannte „white flight“. Die „non African American“ community, Großteils Mittelschicht, verließ über die Jahrzehnte Stück für Stück die Stadt und siedelte in die Vororte um. Dies war der wesentliche Faktor der Schrumpfung, denn die „African American“ community wuchs noch bis zum Jahr 2000 und die Bevölkerung der Metropolregion blieb nahezu konstant. Weitere Faktoren kamen hinzu: der Ausbau der Schnellstraßen oder die Verlagerung von Industriegebieten. Die gesellschaftlichen Spannungen, der „racial issue“, blieb natürlich trotz der räumlichen Ausdifferenzierung erhalten. Heute ist die 8. Meile nicht nur die Grenze zwischen Stadt und Vororten sondern auch zwischen Welten. Südlich der 8. Meile prägen Armut, Perspektivlosigkeit, Schulversagen und Kriminalität das Leben.

Abbildung 1. Segregation in der Metropolregion Detroit

Die Segregation in der Metropolregion lässt sich an Indikatoren ökonomischer Teilhabe festmachen, Bildung, Arbeit, Einkommen. Alle lassen sich letztlich aber wieder auf das Merkmal „African American“ zurückführen. Der Unterschied in den Indikatoren zwischen Detroit und einem der angrenzenden Vororte Livonia macht es sichtbar.

Abbildung 2. Bevölkerungsstruktur im Vergleich 2011. US Census Bureau

 

Abbildung 3. Arbeitslosenquote im Vergleich. US Census Bureau

 

Abbildung 4. Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich. Durchschnitt 2008 bis 2012. US Census Bureau

 

Abbildung 5. Bildungsabschluss im Vergleich. Durchschnitt 2008 bis 2012. US Census Bureau

Nirgends in den USA ist die Segregation stärker. Und sie wird geschützt. Es ist kein Geheimnis, dass bessergestellte Schichten gern schwächere oder einfach nur „andere“ Gruppen vom eigenen Lebensumfeld fernhalten. Trotz aller Gesetze gibt es dafür vielerlei Möglichkeiten. Manche sind subversiv. Andere nicht.

Abbildung 6. Eine physisch gesperrte Straße an der Ortsgrenze Detroit.

Schwäche der Lokalpolitik

Diese Segregation prägte die Politik. Der 1974 gewählte und zwanzig Jahre amtierende Bürgermeister Coleman Young versuchte die Benachteiligung umzukehren, verstärkte dadurch aber die Konflikte und die Vorbehalte der „non African Americans“, die sich zunehmend bedroht und verdrängt sahen. Manche lokalpolitische Fehlentscheidungen sind hierauf zurückzuführen, zum Beispiel die Verhandlungsschwäche gegenüber den Gewerkschaften oder die Interpretation der Stadtverwaltung als „employer of last resort“. Die Stadt war nicht mehr in der Lage, konstruktiv mit dem Land oder den Vororten zu arbeiten. Alles wurde durch den „racial issue“ und die Segregation überschattet. Man lebte in verschiedenen, in jeder Hinsicht getrennten Welten, entfremdete, misstraute und ignorierte sich. Kooperation fand nicht statt, war oft auch nicht gewollt. Detroit allein war nicht in der Lage, seinen Problemen zu begegnen. Der Niedergang verlief ungebremst.

Das Resultat: Segregation wirkt sich, wie ich im vorhergehenden Blog-Beitrag 4 beschrieben, auf den Haushalt der Stadt Detroit aus. Er geriet aus dem Lot, da die Einnahmen wegbrachen und die Armutskosten zunahmen. Über den Haushalt hinaus handelt es sich natürlich um ein gesellschaftliches Problem. Es besteht weiter und wird vererbt. Unterschiede in der Wohnqualität, dem Wohnumfeld, der Gesundheitsversorgung, der Bildung, den Kapazitäten des Elternhauses, Zugang zum Arbeitsmarkt, Einkommen sind allesamt Resultate des „racial issue“ und der daraus folgenden Segregation. Dieses Problem ist mit einem Insolvenzverfahren nicht zu lösen.

Segregation, ein Thema von zunehmender Relevanz auch in Deutschland. Was kann man tun, sie zu verhindern oder zu überwinden?

Lesen Sie in Beitrag Nummer 6 am Freitag: Warum „freiwillig“ ein dehnbarer Begriff ist oder die Geburt einer neuen Berufsgruppe.

Foto: René Geißler

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  • Wolfgang Ksoll wrote on 26.11.2014

    Bei der rassischen Deutung muss man vorsichtig sein. Ich vermute, dass die soziologische Verteilung der Unterschicht ein wesentlich determinierender Fakt ist. Tayloristische Automobilindustrie zieht nun mal viel Unterschicht an, da für die Arbeit am Band wenig Qualifikation benötigt wird. Das hat man in Deutschland auch (Ford, Köln, oder Bergbau oder Werften in Rostock). Für die Zugehörigkeit zur Unterschicht ist nicht immer die Hautfarbe oder Rasse entscheidend. Die Probleme aber sind immer die gleichen: die Mittelschicht flieht, die Reichen ghettoisieren sich. In Neukölln ist auch mehr Hullygully auf der Straße als am Wannsee (siehe Görlitzer Park). Man sollte daher mehr soziologisch stratigraphisch arbeiten als mit Hautfarben oder Religionen oder Herkunftsländern bei Migranten. Gerade auch, wenn man ökonomische Phänomene untersucht.

    • Rene Geißler wrote on 27.11.2014

      Selbstverständlich gibt es keinen Automatismus zwischen „african american“ und Unterschicht. Die krasse räumliche Ungleichverteilung ist jedoch ein starker Indikator für entsprechende gesellschaftliche Problemlagen. Es gibt derer weitere, wie aktuell auch der Fall Ferguson zeigt. Die Zuwanderung in die tayloristische Arbeitswelt erfolgte aus dem klassischen Arbeitermilieu. Einigen Gruppen gelang aber der Aufstieg in die Mittelschicht und daraus der Umzug in die Vororte. Anderen, Großteil den „african americans“ nicht. Eine Form der gläsernen Decke.

  • Benjamin Holler wrote on 01.12.2014

    Dann ist die 8th Mile für Detroit wohl das, was die A40 für Essen ist? Wäre spannend, ob sich noch mehr Beispiele für solche Trennungsachsen in Städten/Regionen finden lassen…

    • René Geißler wrote on 02.12.2014

      Wir werden dieser Empfehlung nachgehen….. Interessant auch die provokative Frage, worin der Unterschied in den lokalpolitischen Handlungsspielräumen zwischen zwanzig Jahren Nothaushalt und Insolvenz besteht.