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29. März 2022

Willkommenskultur 2.0

Bei den vielen Geflüchteten aus der Ukraine habe nicht nur ich ein Déjà vus: das Jahr 2015. Ganz gewiss sind in dem Jahr auch etliche andere Dinge geschehen, doch bei den vielen von uns ist eine Sache besonders in Erinnerung geblieben: fast eine Million Menschen flüchteten über die Balkanroute nach Deutschland- bis diese de facto Ende März 2016 geschlossen wurde. Für Deutschland bedeutete dies eine besondere neue Herausforderung. Das BAMF sah sich mit einem enormen Zuwachs an Asylanträgen konfrontiert, während viele Kommunen recht bald an organisatorische Grenzen kamen. Gleichzeitig standen an Bahnhöfen Menschen und begrüßten in rührenden Szenen die Geflüchteten, um ihnen das Ankommen zu erleichtern. Zum Stichtag 31. Dezember 2020 lebten in Deutschland nach Angaben des Bundesinnenministeriums 1,4 Millionen Menschen mit Fluchterfahrung. Jede*r Fünfte dieser Bevölkerungsgruppe, lebt seit mehr als sechs Jahren in Deutschland.

 

2015 in Deutschland

Auch wenn es in den Jahren danach politisch ausgeschlachtet wurde, denkt man heute noch sehr oft an drei Worte, die in diesem Zusammenhang gefallen sind: „Wir schaffen das!“. Daran, dass wir es schaffen können, haben wir alle, die aktiv in Ehrenämtern mitangepackt haben, geglaubt. Die Resonanz in der breiten Bevölkerung hat dieses Gefühl noch mal verstärkt. In unserem kleineren Landkreis im Süden Baden-Württembergs wurde binnen kürzester Zeit die leerstehende Kaserne in eine Landeserstaufnahmestelle (LEA) umfunktioniert. Die Städte im Landkreis unterstützten durch die Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften. Der Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes und die Caritas veröffentlichten einen dringenden Spendenaufruf. Privatpersonen organisierten sich ortsweise und brachten täglich all die benötigten Spenden, so dass man binnen weniger Tage den Spendenaufruf sogar beenden musste. Sehr vieles geschah ad-hoc, sehr vieles war chaotisch. Die Zuständigkeiten waren sehr unklar, sodass einige Bemühungen dann auch leider ins Leere liefen. Ein Beispiel von vielen: Ende September 2015 feierten auch viele Muslim:innen in Deutschland Eid ul- Adha. In unserem Landkreis gibt es einige Moscheegemeinden, die sich spontan zusammentun wollten, um den Flüchtlingen der LEA ein Essen auszugeben. Nach unzähligen Telefonaten mit sämtlichen Regierungspräsidien, der Kreisverwaltung, Ortspolizeibehörden, Kasernenleitung und Caritas wurde die Aktion sein gelassen – denn Spontanität, Effizienz und Bürokratie vertragen sich bis heute nicht gut. Es kam Plan B zum Einsatz: Alle Kinder in der Kaserne erhielten ein einheitliches Eid Geschenk-Paket. Über die Monate haben sich aber bessere Strukturen gebildet. Es bildeten sich z. B. Sprach- und Lernpatenschaften, während sich die Bewilligung von Sprachkursen in die Länge zogen, Freundschaften durch den gemeinsamen Sport, Begegnungstätten und ehrenamtliche Arbeitskreise zum Thema Asyl. Ich erinnere mich noch gerne an ein vom Bundesinnenministerium gefördertes Projekt in welchem Ehrenamtliche in Seminaren zur Flüchtlingsarbeit in Deutschland geschult und dazu ermutigt wurden, unterschiedliche Projekte zur Integration der Geflüchteten zu organisieren. Mit der Unterstützung meiner Kommune und den neu etablierten Strukturen konnten wir in wenigen Tagen sehr unkompliziert einen Zumba- Nachmittag für geflüchtete Frauen und Kinder organisieren. Andere planten wiederum Ausflüge oder Kochabende. Das Projekt wurde dann leider von heute auf morgen für beendet erklärt. Doch es gibt auch viele Projekte von damals, die noch immer bestehen oder wurden anlässlich der Ukrainekrise wiederbelebt.

In dem Projekt “Ankommen in Deutschland” hat die Bertelsmann Stiftung damals Kommunen begleitet, um die Arbeit vor Ort besser zu koordinieren: denn je besser Stadtverwaltung, Jobcenter, Arbeitsagentur, Ehrenamtliche und Hauptamtliche Initiativen der Zivilgesellschaft, Migrantenorganisationen, Ausländerbehörden, Sprachkursträger all diese Akteure vor Ort zusammenarbeiten, desto schneller gelingt es, beispielsweise Geflüchtete in Ausbildung und Arbeit zu vermitteln. Denn Integration ist ein Prozess, die Hürden auf dem Weg gilt es, gemeinsam zu umschiffen. Aus den Erfahrungen, die damals in den Kommunen gemacht wurden, kann man heute lernen.

Der Krieg in der Ukraine

7 Jahre später sind wir erneut an einem Punkt in der Geschichte, an dem Hundertausende Menschen bei uns Zuflucht suchen. Diesmal flüchten Ukrainer:innen vor einem Angriffskrieg durch den Aggressor Russland in Richtung Westen. Seit dem 24. Februar, dem Beginn des Angriffskrieges sind rund 3. 626.546 Millionen Personen aus der Ukraine geflohen, ungefähr 6.5 Millionen Ukrainer:innen sind derzeit Binnenflüchtlinge. Die meisten Flüchtlinge außerhalb der ukrainischen Grenzen sind aktuell noch in den Nachbarstaaten wie Polen, Rumänien und Moldau. Laut Expert:innen könnten schätzungsweise ca. 30 Prozent der über 3 Millionen Ukrainer:innen in Deutschland Zuflucht suchen. Hierzulande sehen wir wieder, wie die Zivilgesellschaft sich aktiv mobilisiert und solidarisch hilft. Dutzende Ehrenamtliche bieten wieder ihre Angebote an, sei es durch das Dolmetschen, Spenden, oder die private Aufnahme von Ukrainer:innen. Andere fahren direkt an die Grenzgebiete und helfen dort vor Ort.

Die Kommunen sehen sich jetzt primär ähnlichen Herausforderungen gegenüber wie 2015. Aber, auch wenn sie diesmal um die Erfahrungen von damals reicher sind: die Plätze in den Landeserstaufnahmen sind noch immer nicht ausreichend. So auch unter anderem in meinem Heimatlandkreis, wo man sich schon im letzten Jahr auf die Suche nach weiteren Unterbringungsmöglichkeiten in den Kommunen begeben musste. Wie genau das Problem gelöst werden kann, ist unklar – es ist aber mehr als unbefriedigend, Geflüchtete aus ihren Strukturen rauszureißen und in anderen Unterkünften unterzubringen, wie es jetzt schon in manchen Orten der Fall war.

Viele freiwillige Bürger:innen und Bürger:innen in Schlüsselberufen in den Kommunen sind wieder aktiv, und leisten damit einen großen und wertvollen Beitrag zum Stemmen dieser Herausforderungen. In unserer aktuellen Ausgabe „Demografie konkret – Lösungsansätze für Herausforderungen vor Ort“ stellen wir Ihnen Projekte vor, die in den vergangenen Jahren erfolgreiche Integrationsarbeit geleistet haben.

Wenn ich mir in meiner privilegierten Situation als Ehrenamtliche noch etwas wünschen könnte, wäre es, dass wir uns in unseren Projekten und in unserem Engagement nicht von Aktionismus verleiten lassen, sondern jetzt bestehende Strukturen verbessern, erweitern und an der Nachhaltigkeit der Projekte und Strukturen in unseren Kommunen arbeiten.

Wie sieht dies Situation in Ihrer Kommune aus? Kennen Sie gute Beispiele für erfolgreiche Integrationsarbeit? Dann schreiben Sie uns gerne.

Daten zu diesem und weiteren kommunalen Themen finden Sie im Wegweiser Kommune.

 

Bildnachweis: Vika Strawberrika / Unsplash – Unsplash License, https://unsplash.com/license

 

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