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9. Juli 2020

Tönnies und (k)ein Ende – Corona als Chance.

Max Frisch reloaded:

„Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen“

Am 6. Juli entschied das Oberverwaltungsgericht Münster, dass der „Lockdown“ infolge des Corona-Ausbruchs im Kreis Gütersloh aufzuheben ist, da er unverhältnismäßig sei. Ist denn nun alles in Butter? Kann der Kreis Gütersloh endlich wieder zur Normalität übergehen? Kann die ganze Gesellschaft nun wieder aufatmen? Nein, natürlich nicht.

 

Katastrophale Lebensbedingungen der Mitarbeiter

Am 8. Juli berichtete WDR2 das, was bereits alle vermutet haben: „Arbeiter hausen im Dreck: Das Arbeits- und Gesundheitsministerium NRW hat die Unterkünfte von Arbeitern aus der Fleischindustrie kontrolliert. Das Ergebnis: knapp 1.900 Beanstandungen. Menschen, die täglich unser Fleisch zerlegen, hausen demnach unter „katastrophalen“ Umständen. Toiletten und Bäder seien kaputt, die Wände verschimmelt, Ungeziefer laufe herum – so ein Bericht des Ministeriums, der am späten Abend veröffentlicht wurde.“ WDR aktuell: 08.07.20 Bereits vor dem akuten Corona-Ausbruch am 17. Juni hatte das Land NRW Kontrollen in Wohnunterkünften der Tönnies-Beschäftigten vorgenommen.

In den letzten Wochen konnte man in zahlreiche Reportagen verfolgen, dass die Arbeiter bei Tönnies nur formal den Mindestlohn erhalten. Davon werden ihnen jeweils mehrere hundert Euro für ihre Unterkunft sowie für Transport und anderes abgezogen. Sie arbeiten oft weit über 8 oder 10 Stunden täglich hinaus.

Die Betriebe wie Tönnies geben vor, die Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Beschäftigten nicht zu kennen, denn sie geben die Aufträge an Subunternehmen, die wiederum vorbei an jeder Kontrolle die Beschäftigten fest im Griff haben, teilweise sogar die Pässe einbehalten

Die Firma Tönnies mit ca. 7 Milliarden Umsatz hat diesen Menschen, ihren Familien und einer ganzen Region geschadet. Zuvor gab es bereits ähnliche Corona-Ausbrüche bei Westfleisch im Kreis Coesfeld sowie Müller-Fleisch im Kreis Pforzheim, die auf ähnliche Zustände zurückzuführen sind.

Zustände, die zum Himmel schreien, in einem der reichsten Länder Europas.

 

Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Dem EU Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder folgte 2014 die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Lebensbedingungen zwischen den EU Ländern sind nach wie vor sehr unterschiedlich. Gerade in Südosteuropäischen Staaten wie Rumänien und Bulgarien ist das Durchschnittseinkommen sehr niedrig, herrscht in vielen Gegenden Armut. Daher hoffen viele Bulgaren und Rumänen auf attraktivere Einkommen und Lebensverhältnisse in Deutschland und anderen reichen in EU-Ländern. Sie werden enttäuscht.

All dies gab es längst vor Corona. Doch durch den Corona-Ausbruch kommen diese Missstände nun ans Tageslicht. Vor allem wurden weite Teile der Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen und dadurch aufmerksam – wie im Fall Tönnies im Kreis Gütersloh. Das bietet die Chance, hier endlich aufzuräumen.

 

Was muss getan werden?

 1. Werkverträge unterbinden

Die Werkverträge und das Subunternehmertum sind zu unterbinden. Die Arbeiter müssen wie für andere Beschäftigten üblich, bei den Fleischbetrieben angestellt werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Kommunen überhaupt wissen, wer in den Betrieben arbeitet. Bei Tönnies hat es Tage gedauert, bis man die Arbeiter vollständig erfasst hatte. Hier wurde durch Arbeitsminister Hubertus Heil seitens der Bundesregierung eine entsprechende Gesetzesinitiative gestartet. Das lässt hoffen. Und sogar Firmen-Chef Tönnies scheint endlich bereit zu sein, die seine Arbeiter fest und sozialversicherungspflichtig anzustellen.

 

2. Kontrolle der Wohn- und Arbeitsbedingungen

Kontrollen der Arbeits- und Wohnbedingungen durch das Land NRW, durch die zuständige Zolleinheit und durch die Kommunen sind unabdingbar. Doch sind hier bisher die Ressourcen unzureichend. Daher kann man sich hier nur folgenden mahnenden Worten anschließen: „Es wird Zeit, dass die Politik endlich das Zepter des Handelns in die Hand nimmt und die Zollchefs aus dem Dornröschenschlaf erweckt, damit die Kolleginnen und Kollegen endlich in guten Strukturen, mit engagiertem Eifer und großer Kompetenz das machen können, wozu sie da sind – nämlich Straftäter zu ermitteln und der Justiz zu übergeben,“ fordert GdP-Chef im Zoll Frank Buckenhofer.

 

3. Mitbestimmung in Betrieben und Kommunen

Es ist wichtig, dass die Beschäftigten und ihre Familienmitglieder eine Stimme haben, dass sie sich engagieren und beteiligten können. Daher müssen auch ihnen Mitbestimmungsrechte in den Betrieben eingeräumt werden, sei es durch Betriebsräte, Mitarbeiterbefragungen oder andere Instrumente, die in der Regel anderen Beschäftigten zur Verfügung stehen. Auch in den Kommunen ist es wichtig, dass Integrationsräte, Integrationsbeauftragte, Politik, Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft ihre Interessen wahrnehmen. Und dass sich die Beschäftigten egal welcher Herkunft selbst engagieren und beteiligen können – sei es in Vereinen, im Integrationsrat oder -Beirat oder gar im Stadtrat oder Kreistag.

 

4. Arbeiter müssen in die Stadtgesellschaft integriert werden

Die Beschäftigten, die zum großen Teil aus Bulgarien und Rumänien stammen, sind vor allem nicht als Einwohner zweiter Klasse zu betrachten, sondern sie gehören zur Bevölkerung in unseren Städten und Kreisen dazu. Ob sie nun für eine Saison, für ein Jahr oder für immer hierbleiben. Der Fehler aus den 60er und 70er Jahren darf sich nicht wiederholen: damals dachte man, die sogenannten Gastarbeiter aus Italien, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei würden nach kurzer Zeit wieder gehen. Oft dachten sie es auch selbst. Doch viele sind geblieben, haben Kinder und inzwischen Enkelkinder. Max Frischs bekanntes Zitat „Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen“ sollte auch für heute die Lektion bereithalten.

 

5. Kommunen müssen aktiv auf Arbeiter zugehen

Die Kommunen sollten den Beschäftigten mit einer weltoffenen Haltung begegnen und ihnen faire Zugangsmöglichkeiten und Teilhabe bieten. Angefangen von Informations- und Beratungsangeboten über Deutschkurse bis hin zu Kita- und Schulplätzen für die Kinder der Beschäftigten. Was hier alles zu einer Weltoffenen Kommune dazugehört, beschreibt unser Modellprojekt Weltoffene Kommune: www.weltoffene-kommune.de.

Corona kann also tatsächlich eine Chance sein, endlich mit den Missständen aufzuräumen! Wann, wenn nicht jetzt? Es ist höchste Zeit.

Bildnachweis:

Bild von Mammiya auf Pixabay  / pixabay.com – Pixabay License, https://pixabay.com/de/service/license/

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  • Christina Wieda wrote on 09.07.2020

    Sehr guter Artikel, vielen Dank! Es ist wichtig, dass die Freiheiten, die ein vereintes Europa ermöglicht, nicht zu neuen Wegen von Ausbeutung und Einschränkung von Grundrechten führt. Genau dafür steht Europa nicht, wenn es ein Europa für alle Europäer sein soll.