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18. Juni 2021

Gelten Grundrechte in Deutschland für (alle) Kinder?

Die gescheiterte Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, aber auch die aktuelle Impfdiskussion sowie der Anstieg der Missbrauchs- und Gewaltfälle während der Corona-Lockdowns zeigen: Die rechtliche Position von Kindern in Deutschland ist ungewiss, Grundgesetz und Kinderrechtskonvention zum Trotz. In diesem Land sind Kinder „Anhängsel“ ihrer Eltern, und wenn diese – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind, die Rechte ihrer Kinder zu schützen oder durchzusetzen, dann werden Kinder in ihren Rechten beschnitten.

Für die Rechte von Kindern UND die Frage, ob sie diese auch wahrnehmen können, interessieren sich viele Menschen und Organisationen. Am Beispiel der Corona-Hilfen lässt sich die Bedeutung des Themas jedoch in einen größeren Kontext einordnen. Während die Lufthansa sich – vergleichsweise schnell – über 9 Milliarden Euro freuen durfte, sind erst in den letzten Wochen zwei Milliarden Euro für Kinder und Jugendliche aus dem Bundesbildungs- und dem Familienministerium gemeinsam auf den Weg gebracht worden. Wegen der Verteilung des Geldes über die Länder, der Ausgestaltung der Förderrichtlinien sowie dem eklatanten Fachkräftemangel in Verbindung mit der begrenzten Laufzeit bis Ende 2022 bleibt abzuwarten, was bei den Kindern wirklich ankommt.[1] Angebote in den Sommerferien aus diesen Mitteln zu gestalten, ist ein sehr sportliches Ziel.

Insgesamt scheint auf die Politik kaum wirksamer Druck ausgeübt zu werden, die unterschiedliche Situation von Kindern wahrzunehmen und adäquat zu gestalten. In der aktuellen Zeit der Pandemie wird das in den Medien beinahe täglich vermeldet, jenseits von Corona nimmt die Öffentlichkeit häufig nur besonders spektakuläre Fälle von Missbrauch und Gewalt wahr. Dabei sind Missbrauch und Gewalt nur die drastischen Beispiele für meine These, nämlich die systemimmanente Vernachlässigung grundgesetzlich verbriefter Rechte, die auch für Kinder gelten. Bei Gewalt und Missbrauch ist der Staat über das Wächteramt (Art. 6 Abs.2 GG) verpflichtet, einzugreifen. Ansonsten gilt häufig: Wo kein Antragsteller, da kein Angebot und, da Kinder nicht selbständig Anträge stellen können, im schlimmsten Fall keine Teilhabe. Wo bleibt da die Fürsorgepflicht des Staates?

 

Armut überschattet alle Lebensbereiche von Kindern

Zahlreiche Forschungen belegen den Zusammenhang von Armut und schlechten Teilhabe-, Gesundheits- und Bildungschancen, und sie belegen, dass aus der Armut nur sehr beschwerliche Wege herausführen. Die deutsche Sozialgesetzgebung folgt dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 GG und verankert im einfachen Recht Lösungen für einzelne Lebenslagen. Kumulierten Problemlagen, die man in sogenannten benachteiligten Stadtteilen findet, kann diese Herangehensweise wenig entgegensetzen.

Die Forderung nach einer ganzheitlichen Herangehensweise an Problemlagen ist nicht neu. Über viele kommunale Koordinationsprojekte, in denen untergesetzlich zusammengeführt wird, was administrativ auf Grund des föderalen Aufbaus unseres Landes nicht zu vereinbaren ist, wird versucht, Kinder, Jugendliche und Familien ressourcenorientiert zu unterstützen. Die Reproduktion dieser Projekte unter unterschiedlichen Themenschwerpunkten, finanziert von der EU, dem Bund, den Ländern oder Stiftungen, zeigt, wie groß der Bedarf ist – sowohl bei der Zielgruppe wie auch in der Verwaltungslogik. Letzterer scheint häufig die Adressatenperspektive zu fehlen, wenn es darum geht, auf welche menschliche Realität Verwaltungshandeln trifft. Es bleibt abzuwarten, ob die aktuell erstarkende Forderung nach mehr Partizipation Veränderungen anstößt.

[1] Karliczek/Giffey: „Kinder und Jugendliche nach der Corona-Pandemie stärken“ – BMBF

 

Kommunen stärken, um Kinder zu stärken

Die grundsätzliche Problematik haben kommunale Praktiker sowie Fachleute auf Landes-, Bundes und auch europäischer Ebene erkannt und versuchen über fördermittelfinanzierte Koordinationsprojekte abzuhelfen. Die sind in ihrer Wirkung jedoch begrenzt, da insbesondere Kommunen mit Haushaltssicherung häufig nicht über die Mittel verfügen, um die aufgebauten Strukturen zu verstetigen.

 

Eine Verfassungsänderung als neuer Vorstoß

Das aktuell veröffentlichte Rechtsgutachten Prävention verankern – Konsequenzen aus dem verfassungsrechtlichen Verbot der Benachteiligung auf Grund sozialer Herkunft von Prof. Dr. Constanze Janda nimmt sich der Problematik an. Es verfolgt die Frage, wie Kommunen der Fürsorgepflicht des Staates adäquat nachkommen und welche Rolle der Bund spielen könnte, damit alle Kinder von kommunalen Bildungs- und Förderangeboten erreicht werden. Vorgeschlagen wird eine gemeinsame Einrichtung – eine Präventionsagentur – nach dem Vorbild der Jobcenter. Schwerpunkt der Tätigkeit soll die Koordination von Leistungen aus den Bereichen Erziehung, frühkindlicher und schulischer Bildung und Betreuung, Gesundheit und Sozialem sein, die in jeder Kommune ohnehin erbracht werden. Damit könnten verbindliche Strukturen in den Kommunen deutschlandweit verankert werden. Zurzeit fangen Fördermittel-finanzierte Koordinationsprojekte häufig immer wieder bei null an oder bauen gar Parallelstrukturen auf. Über die im Rechtsgutachten vorgeschlagene Verfassungsänderung für eine Präventionsagentur könnte der Staat dem entgegenwirken und seiner Fürsorgepflicht und dem in der Sozialgesetzgebung verankerten Hinwirkungsgebot stärker nachkommen. Folglich kämen auch benachteiligte Kinder in den Genuss ihrer (sozialen) Rechte und erhalten die Unterstützung, die sie brauchen, um später ein eigenverantwortliches und selbständiges Leben führen zu können

Änderungsbedarfe in der Sozial- und Finanzverfassung (bertelsmann-stiftung.de)

 

Bildnachweis: © Sergey Novikov – stock.adobe.com

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