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6. Juli 2015

Oxi – und Thessaloniki als gutes Beispiel

Als Deutsch-Griechin im Team Wegweiser Kommune verfolge ich das Geschehen in Griechenland und tausche mich fast täglich mit meiner griechischen Familie vor Ort aus. Auch im Kollegenkreis ist Hellas immer wieder Thema – man will verstehen, warum die Krise dort wie „Die unendliche Geschichte“ anmutet, während die Portugiesen, Spanier, Italiener und Iren ihre Auflagen ohne Gezeter erfüllen. Außerdem schauen wir auch noch auf die kommunale Ebene, wie man Veränderung realisieren kann – dazu gleich mehr.

Chaos ist ein griechisches Wort

Zunächst aber möchte ich meine Einschätzung der Situation in Griechenland geben, die in Deutschland gerne auch als „Chaos“ bezeichnet wird. „Chaos“ ist ein griechisches Wort von griechisch χάος cháos, was den Zustand vollständiger Unordnung und Verwirrung bedeutet. Viele werden sich nach dem deutlichen OXI, also dem Nein zum dritten Sparpaket der EU, in Ihrer Einschätzung bestätigt fühlen: Griechenland will sich nicht an die Versprechungen und Verträge halten und versucht, die EU mit immer neuen Forderungen zu erpressen.

Zu Lasten der nächsten Generation

Die Griechen haben mit Ihrem Volksvotum nicht gegen den Euro und für den Grexit gestimmt – im Gegenteil: Sie haben gegen die aus Ihrer Sicht gescheiterte EU-Sparpolitik und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen in den letzten sieben Jahren gestimmt. Sie haben gegen ein drittes Sparpaket gestimmt, auch, weil die bisherige Politik schon jetzt zu Lasten der nächsten Generationen geht. Sie haben gegen die politische Perspektivlosigkeit der EU gestimmt und deren Versuch, mit den gleichen Mitteln ein anderes Ergebnis zu erzielen. 2/3 der Griechinnen und Griechen haben mit dem Gefühl abgestimmt, nichts mehr zu verlieren zu haben, aber vielleicht ein letztes Zeichen zu setzen. Für eine letzte Chance zur Korrektur der Krisenpolitik der letzten Jahre.

Selbstkritik ist vorhanden

Spricht man mit Griechen, lässt die Selbstkritik nicht lange auf sich warten. Ja, wir haben ein gewachsenes, fest verankertes Korruptionssystem in allen Schichten und allen Bereichen Griechenlands. Ja, es gibt noch immer keine funktionierende Finanzverwaltung und ja, wir leiden alle an den der undurchschaubaren Bürokratie und Rechtsunsicherheit. Die Jahrzehnte lange Prägung des politischen Establishments durch im Wesentlichen zwei Familiendynastien (Karamanlis und Papandreou) haben das Land durch massive Begünstigung der jeweils eigenen Klientel verkrustet. Von dieser Clique grundlegende Reformen zu erwarten war gutgläubig, vielleicht fahrlässig. Die Troika mit den Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission kannte die Verhältnisse im Land. Und das auch schon vor der Einführung des Euro, der politisch gewollt aber wirtschaftlich nicht gerechtfertigt war.

Großzügige humanitäre Hilfspakete werden für die Zeit des jetzt immer wahrscheinlicher werdenden Grexit in Aussicht gestellt. Man hat sich auf der Ebene der EU-Verantwortlichen vielleicht längst damit abgefunden, dass ein Austritt Griechenlands aus der gemeinsamen Euro-Währung unvermeidlich sei. Ist er das wirklich? Unvermeidlich?

Mehr Ehrlichkeit und angemessene Rhetorik auf beiden Seiten, der EU und des IWF sowie der griechischen Regierung, könnte die endgültige Katastrophe in Hellas vielleicht im letzten Moment abwenden: Durch ein realistisches Reformpaket aus Sparoptionen, Umschuldung und Investitionsprogrammen, dass auch in anderen EU-Krisenländern Wirtschaftswachstum überhaupt möglich machen würde.

Strukturreformen notwendig

Die Menschen in Griechenland hoffen gleichzeitig darauf, dass die eigene Regierung endlich ein belastbares Staats-Fundament durch konsequente und tief greifende Strukturreformen im eigenen Land umsetzt. Und hier folgt dann das gute Beispiel, wie das gehen könnte: Auf kommunaler Ebene hat Giannis Boutaris, amtierender Bürgermeister der zweitgrößten Stadt im Land, Thessaloniki, gezeigt, dass eine Sanierung der Kommunalverwaltung erfolgreich gelingen kann. Er hat z.B. einen Wirtschaftsprüfer eingesetzt, der erstmal faktisch berechnet hat, wie „arm“ die Stadt wirklich ist. Dann wurde ein Haushaltsplan und die stetige Überwachung der Einnahmen und Ausgaben fest etabliert. Für deutsche Kommunen ist das Normalität, für griechische nicht unbedingt. Und der Bürgermeister Boutaris lernt immer weiter dazu, er sucht in anderen Ländern nach guten Beispielen, wie Wandel funktionieren kann. (Auch im Wegweiser Kommune zeigen wir gute kommunale Praxisbeispiele.)

Auf Landesebene ist die Syriza-Regierung den Beweis dieses Versprechens der Strukturreformen bisher schuldig geblieben. Auch das, ist den Griechen bewusst. Gleichzeitig hofft man noch immer darauf, dass die Idee der heutigen europäischen Union mehr ist als eine Wirtschafts- und Währungsunion. Und die Hoffnung, die stirbt bekanntlich zuletzt. Ich jedenfalls habe sie noch und meine Familie in Griechenland auch.

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  • Christian Peter Pudlo wrote on 06.07.2015

    Ein aufschlussreicher und ausgewogener Kommentar, der beide Seiten – die EU und Griechenland – kritisch ins Visier nimmt und für beide
    Kontrahenten positive Lösungsmöglichkeiten aufzeigt.

    • Silke Hansberg wrote on 07.07.2015

      Sehr geehrter Herr Pudlo,

      vielen Dank für Ihren Kommentar.

      Es freut mich, hierzu vermitteln zu können, dass zwischen Streitenden oft nie einer nur recht und der andere nur unrecht hat.

      Mit freundlichen Grüßen
      Silke Hansberg

  • Christian Peter Pudlo wrote on 06.07.2015

    Ein aufgeschlossener und ausgewogener Bericht, der beide Seite –
    die EU und Griechenland – kritisch ins Visier nimmt und dabei positive
    Lösungsmöglichkeiten für beide Parteien anbietet.

  • Wolfgang D. wrote on 10.07.2015

    Klasse, super gute Analyse, klärt auf und lässt alle Beteiligten hoffen, vielen Dank an die Deutsch-Griechin! Habe auch zwei deutsch-griechische Kinder, alles Mädchen. 🙂